2018 Herbstsemester

ORTE SCHAFFEN

ist ein Projekt für den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk, Architektur und anderen Disziplinen. Die Kernidee besteht darin, Räume zu schaffen, die einen unmittelbaren Bezug zu ihren Bewohnern haben. Wir vertreten die Überzeugung, dass der Mensch erst aus dem Überschaubaren heraus fähig und bereit ist, wirksame Motivationen zu entwickeln und schlussendlich Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen. Dabei sind wir uns bewusst, dass dieses Überschaubare nicht für alle Aspekte der menschlichen Existenz in dieser Welt steht. Das Projekt Orte schaffen will an spezifischen Themen forschen, die uns bewegen und die als verantwortlich für die Vernichtung von Differenzen und kultureller Vielfalt betrachtet werden. Die Kooperation zwischen Forschern, Spezialisten aus den verschiedensten Fachgebieten, Lehrern und Studierenden, Planern und Entscheidungsträgern wird gesucht und soll möglichst konkret und praxisorientiert sein.

ORTE SCHAFFEN XVIV | HS 18

Die Kirche in Herrliberg

Entwurf eines sakralen Raumes

Sakralbauten sind prägende Elemente der Landschaft. Im Dorf überragen die Kirchen die Häuser und andere Bauten, im ländlichen Raum ziehen Wegkapellen ihre Spur und in den Städten bringen Kathedralen ihre Pracht zur Geltung. Diese Sakralbauten sind Zeugnisse einer durch den Glauben geprägten Gesellschaft. Menschen haben sie geschaffen, um die Realität zu bewältigen. Der Einfluss der Kirche ist kleiner geworden. Die Gesellschaft greift nur noch an den Wendepunkten des Lebens auf diese heiligen Orte zurück. An Bedeutung haben sie nicht verloren – die Menschen begegnen den Sakralbauten mit Offenheit und stiller Sympathie.

Die Erwartungen heutiger Kirchenbesucher sind vielfältig und individuell. Manche interessieren sich für die Architektur, für die Raumstimmung, für religiöse Reliquien, für Kunst, andere erwarten in der Stille des Kirchenraums zur Ruhe zu kommen oder eine Antwort auf wesentliche Fragen des Lebens zu finden. Diese diversen Interessen entsprechen der Spaltung unseres Alltags in verschiedene Funktionen – Glaube und Raum stehen nicht mehr in einer unmittelbaren Beziehung.

Der Religionsphänomenologe Mircea Eliade stellt fest, dass auch der profane Mensch Spuren von religiösem Verhalten in sich bewahrt, nur sind die Spuren ihrer religiösen Bedeutung entkleidet. Er schreibt in Das Heilige und das Profane: «Die überwiegende Mehrheit der Religionslosen ist nicht wirklich frei von religiösen Verhaltensweisen, Theologien und Mythologien. So haben Neujahrvergnügungen oder Hauseinweihungen, obwohl sie verweltlicht sind, immer noch die Struktur eines religiösen Rituals».

Gerade an den Wendepunkten des Lebens – in den Lebensübergängen – bei Geburten, Abdankungen und Trauungen, zeigen sich religiöse Verhaltensweisen. Die Kirche ist nach wie vor ein bergender Ort für diese Rituale.

Die von Mircea Eliade angesprochene religiöse Entkleidung ist Teil der Veränderungen. Auch wenn die Lebensvorstellungen der modernen Gesellschaft fast grenzenlos sind, Geburt und Tod bilden kaum überschreitbare Grenzen unseres Handelns und Denkens. Obwohl vermehrt Menschen den Ort dieser Übergänge im Überall suchen und oftmals auch finden, scheinen die Sakralbauten nicht ausgedient zu haben.

An der Frage, was geschieht mit den Kirchen und Kapellen, kommen wir nicht vorbei. Im Val Lumnezia – einem bündnerischen Seitental – warten unzählige Kirchen und Kapellen auf ihr Schicksal. Ob die religiöse Entkleidung weiter geht – durch Umnutzungen der Kirchen zu anderen Zwecken – ist eine entscheidende Frage unserer Kultur.

Das Leben ist Bewegung und strebt nach Entwicklung und Entfaltung – nichts kann den Anspruch auf Ewigkeit beanspruchen. Reformation ist ein bedeutender Begriff der Religion – die Vergangenheit ist der fruchtbare Boden, die Gegenwart das Handlungsfeld und die Zukunft der sinnstiftende Gestaltungsraum. Die Kirche im Sinne des Wortes Reformation – Wiederherstellung – wird sich ständig reformieren.

Auf der Suche nach dem gegenwärtigen Kirchenraum ist auch Alexander Heit, Pfarrer von Herrliberg. Nach seiner Vorstellung muss die Kirche die Wendepunkte des Lebens und den klassischen Gottesdienst unterstützen. Dazu muss sie der Sondersituation der modernen Lebenswelt Rechnung tragen. Um diesen Funktionen gerecht zu werden, muss die Kirche einerseits zu einer Unterbrechung des Alltags verhelfen, anderseits muss sie dazu beitragen, die moderne Lebenswelt in ein Gespräch zu verwickeln, in dem die Menschen ihre eigenen religiösen Anleihen klären können.

Wie wäre dieser sakrale Raum geschaffen? Der katholische Philosoph John Pieper versteht unter Sakralität eine Grenze zum werktäglichen Betrieb, konsequent etwas, das dem durchschnittlichen Gebrauch entrückt ist. Gemäss dieser Vorstellung braucht die Kirche eine Umfriedung – der Innenraum ist nach aussen geschlossen. Für liberalere Kräfte ist die Kirche eine Art Mehrzweckraum, ein Kirchgemeindezentrum. Dieser Raum ist offen für vieles.

Aus theologischer Sicht wird die Meinung vertreten, dass der sakrale Raum ein Begegnungsraum sei. Der Mensch soll sich darin wohl fühlen. Den Kirchenraum als Begegnungsraum sieht auch der Jesuit Friedhelm Mennekes: «Der Sakralraum soll auf seine mögliche Funktion bedacht sein. Der Mensch will zur Ruhe kommen. Seine Stimmungen sollten ausschwingen und dann zunächst von der Atmosphäre des Raumes aufgefangen werden. Der Besucher sucht zunächst sich selbst, dann seinen Gott und dann vielleicht eine Botschaft. Die Erweckung der eigenen Erfahrung ist die Voraussetzung, für jegliches Tasten und Ringen über sich hinaus. Dorthin muss er sich fragend bewegen.»

Ein Begegnungsraum trägt ein menschliches Mass. Er wird anthropologisch bestimmt. Eliade schreibt: «Je geschützter und gepflegter der Kirchenraum, desto letaler (tödlicher) das Gemeindeleben.» Aus dieser Perspektive greift es zu kurz, den Sakralraum als eine rein ästhetische Kategorie zu begreifen. Auch dass die Museen die neuen Kathedralen seien, wäre ausgeschlossen. Das Museum ist ein Repräsentationsraum, die Kirche ein Raum gelebter Religiosität.

Durch solche und andere Gedanken lassen wir den Entwurf für die Kirche in Herrliberg leiten. Die Kirche in Herrliberg wurde 1687 erbaut. Sie hatte einen kleineren Vorgängerbau, der um 1400 erstellt worden ist. Die heutige Kirche steht auf alten Fundamenten, die im Kellergewölbe sichtbar sind. Die alte Kirche war von einem Friedhof umgeben. Dieser wurde beim Neubau aufgehoben. Die Kirche in Herrliberg ist typisch für die protestantischen Zürcher Kirchenbauten aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Die meisten Kirchen aus dieser Zeit haben ähnliche Grundrisse.

Der Entwurf des Kirchenraums oder der Kirche steht den Studierenden frei. Auch ein Neubau kann in Betracht gezogen werden.

Durch die verschiedenen Umbaumassnahmen wirkt die Herrliberger Kirche heute eigentümlich kahl. Zwar entspricht die Befreiung von allen möglichen Utensilien der reformierten Tradition, um eine Konzentration auf das Wort zu erreichen, zugleich hat die Kirche in Herrliberg aber das Vermögen eingebüsst, ein besonderes religiöses Erlebnis zu ermöglichen. Insgesamt fasst der Raum gegenwärtig etwa 300 Leute. Zu bestimmten Gelegenheiten ist er voll besetzt (Konfirmationen, Beerdigungen, spezielle Gottesdienste, Konzerte etc.). Es gibt aber Sonntage, an denen sich die 30-80 Gottesdienstbesucher im Raum verlieren. Durch den Umbau sollte die Kirche das Vermögen gewinnen, die Menschen zu tragen und ihnen das Gefühl vermitteln in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Im Idealfall ermöglicht der Raum zugleich einen Transzendenzbezug.

Corbusier und Ronchamp:
Der Schlüssel, das ist das Licht.
Und das Licht erhält Formen.
Und diese Formen haben Gewalt, zu erregen 
Durch das Spiel der Proportionen, 
durch das Spiel der Beziehungen, 
der unerwarteten, verblüffenden. 
Aber auch durch das geistige Spiel 
Ihres Grundes zu sein: 
Ihre wahrhaftige Geburt, ihre Fähigkeiten zu dauern, 
Struktur….

Unsere Arbeiten werden von Friedhelm Mennekes, Jesuit, Alexander Heit, Pfarrer von Herrliberg, Andreas Cabalzar, Pfarrer von Erlenbach und weiteren Fachleuten begleitet. Die Kritiken finden in der Kirche in Herrliberg statt – die Gemeinde ist dazu eingeladen.

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich 
Assistenten: Lorenz Jaisli, Timon Reichle, Franziska Wittmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Josef Perger 
Anzahl Studierende: 18 
Unterrichtssprache: Deutsch 
Arbeitsweise: Einzelarbeit 
Aufgabentyp: Entwurf (LV 052-1101-18, 14KP)
Einführung: Dienstag, 18. September 2018, Atelier Gisel, 10 Uhr.
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