2009 Herbstsemester

ORTE SCHAFFEN I
Wohnen und Energie

Wenn wir auf die abendländische Kulturgeschichte zurückblicken, so stellen wir fest, dass sie von Denkentwürfen geprägt wurde, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Einmal baut man auf die Sinne und bindet sich mit ihnen an die Erde. In anderen Zeiten geniesst der Verstand mit seinen Höhenflügen grösste Aufmerksamkeit.

Der Mensch hat stets versucht sich in dem ihm zur Verfügung stehenden Raum und Zeit zu verorten: zwischen Himmel und Erde, Geburt und Tod. Frühere Kulturen haben sich gewöhnlich in grösseren Zeiträumen verortet als wir es tun. Für uns bilden Geburt und Tod die kaum überschreitbaren Grenzen des Handelns und Denkens. Trotzdem lassen sich einzelne Konstanten ausmachen, die über alle Denkmodelle hinweg Bestand haben: Das Streben nach Glück und Sicherheit, oftmals verbunden mit der Hoffnung, an den Besten aller Orte zu gelangen.

Der Ort ist im Gegensatz zum Raum, der eine unendliche Größe hat und den man nach wie vor als reine Anschauung bezeichnen kann, eine wahrgenommene Einheit. Beziehungen, Ereignisse, Erinnerungen, dauerhafte Präsenz von etwas, Sinn, Material, aber auch die ihn umgebende Landschaft und Region sind bestimmende Merkmale des Ortes. 

Die Frage nach dem Ort stellt sich immer wieder neu. Angesichts unserer ortsunabhängig gewordenen Kommunikation kann diese Frage als antiquiert erscheinen, als Beharren auf dem statischen Gegenteil der beschleunigten Lebensformen. Die gegenwärtige Krise und die allgemeine Verunsicherung weisen jedoch unmissverständlich auf die Notwendigkeit der Verortung von Lebensformen hin.

Durch das Setzen von Orten wird der Raum überschaubar. Das Sorgetragen für Orte entsteht ein Wille, der auf Verantwortung und Identität basiert. Mit ihm wachsen Individuen, die zum Gestalten und in dessen Vollzug zum Dialog fähig sind. Diesen Dialog brauchen wir, zwischen Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk und Architektur, wenn es um die Frage der Herausbildung von Orten geht.

Orte schaffen meint nicht das Streben nach einem Lokalismus oder nach einem sich selbst genügendem Denkmuster, das nur auf das Hier fixiert ist und sich an das Eigene klammert; es braucht auch kein ideologisch aufgeladenes Blut- und Bodendenken. Orte schaffen bedarf zuerst einmal der Sensibilisierung für das, was da ist, und dann der Kraft dieses zu ordnen und in Beziehung zu setzen zu dem, was ausserhalb liegt oder fehlt.

Orte entstehen durch fruchtbare Differenzen zu anderen Orten. Diese Art von Differenz ist nicht eine Folge der willkürlichen Produktion, sondern eine Folge von gestalteten Beziehungen. Die unmittelbaren Gegebenheiten sind die Mittel, mit denen sie gebildet werden kann. Die Differenz wird vermehren durch die Stärkung des Eigenen und ist nicht aus dem Wettbewerb zu gewinnen.

Für die Erzeugung dieser kraftvollen Differenz ist das Paar gegenüber dem Individuum die geforderte Grösse. Gerade in der Architektur ist dieses «Ich-Bezogene» so stark wie selten zuvor.

Unsere Vision einer Architektur der Zukunft liegt in der Schaffung von Differenzen: die Schweiz ist inmitten von Europa ein Land der besonderen kulturellenVielfalt. Jedoch hat sich auch hier jene Gleichmacherei durchgesetzt, bei der die Material- und Formwahl unabhängig von den örtlichen Ressourcen erfolgt, wo Gestaltungen sich nicht auf gesellschaftsbildende Formen stützen und wo Energiefragen beim Hausbau einzig auf Hülle und Technik reduziert werden, um nur einige Beispiele zu nennen. All dies führt nicht zu einer Architektur, die sich ein gesellschaftliches und kulturelles Ziel setzt. Eine solche streben wir an.

Wir beschäftigen uns über mehrere Semester mit dem Thema «Orte schaffen». Im Herbstsemester 2009 wenden wird uns den Energiefragen im Zusammenhang mit dem Wohnungsbau zu. Gerade auf diesem Gebiet wird das Feld zunehmend von den Spezialisten erobert. Die Idee des Minergie- und des Passivhauses ist zu unterstützen, die Resultate sind jedoch bedenklich. Die Konzentration auf eine einzige Perspektive führt zu einer Verarmung der Kultur und zu einer Vernichtung von Differenzen. Die Architektur ist herausgefordert und muss diesem Phänomen mit Raumfügung und Gebäudestruktur entschieden entgegentreten.

Wir entwerfen an klimatisch verschiedenen Orten ein einfaches Haus. Die Entwürfe werden von der Professur für Gebäudetechnik begleitet.

Alles ist und bleibt Vorstellung und Idee. In und an unseren Intentionen ist dann aber so etwas wie Qualität zu erkennen, sobald sie reale Gestalt annehmen. Das Prädikat der Qualität bezieht sich auf den Umgang mit Material und den Umgang mit Sinn. Qualität muss jedoch innerhalb einer Gemeinschaft als Richtschnur anerkannt werden. Deshalb sind alle Ideen so zu entwickeln, dass in ihnen die Möglichkeit der Annahme durch die Gemeinschaft mitgedacht ist.

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich
Assistenten: Thomas Stettler, Silvan Blumenthal
Anzahl Studierende: 10
Aufgabentyp: O/I
Einführung: Dienstag, 15. September 2009, 10 00 im Atelier Gisel

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