2019 Herbstsemester

ORTE SCHAFFEN

ist ein Projekt für den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk, Architektur und anderen Disziplinen. Die Kernidee besteht darin, Räume zu schaffen, die einen unmittelbaren Bezug zu ihren Bewohnern haben. Wir vertreten die Überzeugung, dass der Mensch erst aus dem Überschaubaren heraus fähig und bereit ist, wirksame Motivationen zu entwickeln und schlussendlich Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen.Dabei sind wir uns bewusst, dass dieses Überschaubare nicht für alle Aspekte der menschlichen Existenz in dieser Welt steht. Das Projekt Orte schaffen will an spezifischen Themen forschen, die uns bewegen und die als verantwortlich für die Vernichtung von Differenzen und kultureller Vielfalt betrachtet werden. Die Kooperation zwischen Forschern, Spezialisten aus den verschiedensten Fachgebieten, Lehrern und Studierenden, Planern und Entscheidungsträgern wird gesucht und soll möglichst konkret und praxisorientiert sein.

ORTE SCHAFFEN XXI | HS 19

Ein Raum für alle

Ilanz – die erste Stadt am Rhein

Die Funktion des öffentlichen Raumes ist primär der Austausch zwischen Menschen mit ähnlichen und unterschiedlichen Interessen – der Dialog. Dieser Austausch braucht einen entsprechenden Raum. Als klassisches Beispiel für den öffentlichen Raum gilt die griechische Agora. Die Agora war Markt- und Versammlungsplatz zugleich.

Die Zeit, als die wichtigsten Entscheidungen im öffentlichen Raum getroffen wurden und dieser der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens war ist vorbei. Die politische Willensbildung und die Funktion des Marktes finden vermehrt virtuell statt. Der physische öffentliche Raum hat an sozialer Relevanz verloren. 

Heute sind die städtischen Platzanlagen vor allem institutionell besetzt oder als Büro- und Einkaufsareal eingerichtet. Der Dorfplatz ist zunehmend ein Ort des Tourismus. Trotz des Wandels bleibt die Mitte wirksam für die Identität des Ortes. 

Sind die Funktionen des öffentlichen Raumes damit festgelegt oder könnte der Raum durch eine andere Form und Gestaltung wieder ein Ort des Dialogs und der Gemeinschaftsbildung werden? Dieser Frage gehen wir in Ilanz, der ersten Stadt am Rhein nach. Dabei verfolgen wir zwei Absichten. Der öffentliche Raum soll einerseits der Stadt und den umliegenden Dörfern dienen. Anderseits soll die Raumbildung den Charakter von Ilanz als Stadt und als Tor zur Region Surselva unterstützen.

Die Stadt Ilanz ist eingebettet in eine muldenförmige Landschaft. Der Ort liegt an einem Schnittpunkt verschiedener Talstrassen – aus Flims und Versam, sowie Richtung Disentis, ins Val Lumnezia und nach Vals. Der Rhein trennt die Stadt. Die Altstadt liegt etwas erhöht zum Fluss.

«Die erste Stadt am Rhein hat eine lange und facettenreiche Geschichte. Politisch, wirtschaftlich, sozial, religiös und architektonisch beschränkt sich ihre Bedeutung nicht allein auf die lokale Ebene, sondern strahlt in die übrige Surselva, oft auch in das weitere Graubünden und manchmal selbst in das schweizerische und europäische Umfeld aus.» (in: Ilanzer Stadtgeschichte, herausgegeben von der Gemeinde Ilanz/Glion. Autoren: Heinz Gabathuler, Dr. Martin Bundi, Dr. Adrian Collenberg, Silke Margherita Redolfi, Dr. Leza Dosch)

Aus städtebaulicher Sicht erfuhr Ilanz anfangs des 20. Jahrhunderts eine grosse Veränderung. Verschiedene Institutionen wie die Rhätische Bahn oder das Spital begünstigten die Zuwanderung und liessen den Ort zu einem regionalen Zentrum werden. Der damit einhergehende Fortschritt war verbunden mit grossen Landschafts- und Stadtveränderungen. Viele Gebäude wurden abgerissen und neu gebaut. So musste auch die alte Holzbrücke, die nach den Plänen des Ingenieurs Richard La Nicca gebaut wurde, einer verkehrstauglichen Betonbrücke weichen. Verschiedene Bildungsinstitutionen und Dienstleistungsbetriebe sind hinzugekommen. Eine starke Ausbreitung fanden die national bekannten Einkaufsläden. Die damit einhergehende Zentralisierung relativierte die wirtschaftliche Bedeutung der umliegenden Dörfer.

Die vermutlich grösste politische Änderung erlebte die Stadt Ilanz, als sie ihre Eigenständigkeit als Gemeinwesen aufgab. Ilanz ist nun das Verwaltungszentrum der zusammen mit zwölf Gemeinden der Umgebung neu gebildeten Grossgemeinde Ilanz/Glion. Im Kanton Graubünden sind Fusionsprozesse seit rund zwanzig Jahren im Gange. Die abnehmende Bevölkerungsdichte und die knappen Finanzmittel sind die wichtigsten Treiber dieser neuen Körperschaften. Die kommunalen Infrastrukturen und Einrichtungen sollen gemeinsam getragen und genutzt werden. Dieser Wandel geht nicht spurlos vorbei. Vor allem die Bewohner der kleineren Dörfer fühlen sich vernachlässigt.

Hier setzen wir unsere Idee an. Die wesentliche Frage ist, was kann der öffentliche Raum leisten? Kann er auch heute die Kernaufgabe des öffentlichen Raumes der Gegenwart übernehmen – den Austausch zwischen verschiedenen Interessensgruppen?

Als metaphorischer Ausgangspunkt dient uns die griechische Agora. Die Agora ist ebenfalls durch den Zusammenschluss mehrerer Dörfer entstanden. Sie ist an einer zentralen, gut zu erreichenden Stelle entstanden. Anfangs war ein ebener Freiraum ausreichend. Aufgrund der zentralen Lage und guten Erreichbarkeit wurde die Agora rasch zum Marktplatz. Mit der Zeit kamen wichtige Gebäude hinzu und die Agora wurde zur städtebaulich bedeutenden Örtlichkeit. 

Eine solche freie und unverbaute Fläche finden wir in Ilanz – nahe der Brücke, die die beiden Stadtteile verbindet. Die freie Wiese liegt zwischen Rheinufer und Bahnhof. 

Wir stellen uns einen Raum der Ereignisse vor. Alain Badiou schreibt in Die Philosophie und das Ereignis: «Das Ereignis ist für mich etwas, das eine Möglichkeit erscheinen lässt, die unsichtbar oder sogar undenkbar war. Ein Ereignis schafft eine Realität nicht durch sich selbst; es ist die Erschaffung einer Möglichkeit, es eröffnet eine Möglichkeit. Es zeigt uns an, dass eine Möglichkeit existiert, von der man nichts wusste. Das Ereignis ist auf eine gewisse Weise nur ein Vorschlag. Alles hängt dann von der Art und Weise ab, wie diese Möglichkeit, die vom Ereignis vorgeschlagen wurde, in der Welt ergriffen, bearbeitet, inkorporiert und entfaltet wird. Genau das nenne ich eine Wahrheitsprozedur. Das Ereignis schafft eine Möglichkeit, aber in der Folge wird eine Arbeit benötigt – kollektiv im Rahmen der Politik, individuell im Rahmen des künstlerischen Schaffens, damit diese Arbeit real wird, das heisst, sich etappenweise in die Welt einschreibt.» (S.17)

Wir reden bewusst von einem Raum und nicht von einem Platz. Beim Raum sind die Funktionen offen. Dieser Raum soll nicht in Konkurrenz zu den Dorfplätzen der umliegenden Gemeinden stehen. Diesen Raum gibt es nicht oder nicht mehr. 

Wir gehen vorerst nicht von einer gebauten, sondern von einer gelebten Fläche aus. Der Entwurf beginnt mit dem Freiraum. Die wichtigste funktionale Dimension ist der Dialog. Der Raum soll sich stets verändern, er wird besetzt und geleert – die Fülle und die Leere sind die Partner. In diesem Spannungsmoment von Kommen und Gehen bilden sich nebst den zu erwartenden auch unerwartete Geschehnisse. 

In einem zweiten Entwurfsschritt wird der Raum abgegrenzt, er bekommt Schwellen. Es sind Strukturen und Bauten, die den Markt und weitere Tätigkeiten stützen. Diese Schwellen sind nicht unüberwindbar, man wird sie übertreten. Die Nutzung der Bauten bleibt offen – zweckfrei. 

Wir entwerfen eine Halle. Diese Halle soll als Versammlungsraum, als Marktraum oder als Theaterraum dienen. 

Ein Bootshaus soll der Ausgangspunkt zur Ruinaulta werden. Die Ruinaulta entstand nach dem Flimser Bergsturz. Dadurch konnte der Rhein nicht mehr abfliessen und es entstand ein ca. 25 km langer See. Mit der Zeit schnitt sich der Rhein tief in die Bergsturzmassen und hat eine einzigartige Landschaft gebildet. Die Ruinaulta ist ein beliebter Ort für Bootsfahrten.

Kleine Werkstätten sollen verschiedenen Handwerkern und Künstlern eine Möglichkeit geben ihr Können der Öffentlichkeit zu zeigen – Handwerk und Kleinhandel, das in den Städten und Dörfern zur Rarität geworden ist. 

Auf der Fläche zwischen der Stadt und dem Rhein soll ein öffentlicher Raum entstehen, der die Region zusammenbringt. Wir glauben, dass nur eine offene Nutzung diesen Beitrag erfüllen kann – der Raum ist für alle zugänglich und steht für verschiedene Formen der Aneignung bereit. Der Raum soll einen Charakter aufweisen, der zu einer wirksamen Identität führt. Der Rhein, der dort oben seine Quelle hat und in Rotterdam ins Meer fliesst, ist ein Potenzial. Ilanz – die erste Stadt am Rhein, ist eine Aufforderung. 

Architektur befindet sich immer im Spannungsfeld zwischen Realität und Utopie. Was können wir tun? Gegen laufende Prozesse können wir nur Widerstand leisten, indem wir sie umgestalten und lenken. Ein Raum für alle ist eine konkrete Utopie. Sie ist machbar.

Fachleute aus Städtebau und Politik und aus den Geistes- und Sozialwissenschaften werden uns unterstützen.

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich 
Assistenten: Lorenz Jaisli, Timon Reichle, Franziska Wittmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Josef Perger 
Anzahl Studierende: 18 
Unterrichtssprache: Deutsch 
Arbeitsweise: Einzelarbeit 
Einführung: Dienstag, 17. September 2019, Atelier Gisel, 10 Uhr
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