2017 Herbstsemester

ORTE SCHAFFEN

ist ein Projekt für den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk, Architektur und anderen Disziplinen. Die Kernidee besteht darin, Räume zu schaffen, die einen unmittelbaren Bezug zu ihren Bewohnern haben. Wir vertreten die Überzeugung, dass der Mensch erst aus dem Überschaubaren heraus fähig und bereit ist, wirksame Motivationen zu entwickeln und schlussendlich Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen. Dabei sind wir uns bewusst, dass dieses Überschaubare nicht für alle Aspekte der menschlichen Existenz in dieser Welt steht. Das Projekt Orte schaffen will an spezifischen Themen forschen, die uns bewegen und die als verantwortlich für die Vernichtung von Differenzen und kultureller Vielfalt betrachtet werden. Die Kooperation zwischen Forschern, Spezialisten aus den verschiedensten Fachgebieten, Lehrern und Studierenden, Planern und Entscheidungsträgern wird gesucht und soll möglichst konkret und praxisorientiert sein.

ORTE SCHAFFEN XVII | HS 17

Die Kulturlandschaft in den Bergen

Über den Umgang mit nicht mehr gebrauchten Ställen

Wandel geschieht — ob durch aktives Tun oder passives Folgen. Betrachten wir die Kulturgeschichte, so war der bewusste Wandel immer auch ein Befreiungsschlag von einer bestehenden Ordnung, hin zu einer besseren Existenzform. Im kulturellen Kontext war der Wandel von zeitübergreifenden Stabilitäten gestützt. Solche Gegebenheiten sind die Ursachen für die für uns noch heute unverzichtbaren Orte. Ein jeweils radikaler Bruch hätte niemals diese identitätsstiftenden Orte hervorgebracht.

Ein solcher Bruch findet zurzeit in der Kulturlandschaft des gesamten Alpenraumes statt. In den Dörfern und in der offenen Kulturlandschaft warten tausende von Ställen auf eine Verwendung. Inhaltlich ist der Wandel grösstenteils erfolgt; die Landwirtschaft hat sich aus den Ställen zurückgezogen. Geblieben ist das Bild einer vergangenen Kultur. Der Grund für diesen Bruch sind unsere Lebensweisen und die damit verknüpften Wirtschaftsformen. Die Betriebe wurden rationalisiert und technisiert. Und die alten Ställe haben keinen Platz in diesen neuen Normen. Zudem ist der Bauernberuf heute nicht sehr attraktiv und die junge Generation wandert ab in die Zentren. Trotz starker Bemühungen durch die Politik konnte dieser Schwund nicht gestoppt werden. Die Bauernkultur, die den Alpenraum seit jeher geprägt hat, ist zum Sterben verurteilt. 

Es ist nicht so, dass alle Beteiligten diesem Untergang widerstandlos zuschauen. Bestrebungen, das kulturelle Erbe zu erhalten, sind vorhanden. Deren Leitvorstellungen könnten jedoch nicht unterschiedlicher sein. Während die Einen das Stallbild und damit das Landschaftsbild um jeden Preis erhalten wollen, sehen die Anderen im Verschwinden der Ställe den konsequenten Weg einer Entwicklung. Solche Extrempositionen sind nur möglich, weil in beiden Fällen keine direkte Abhängigkeit von existenzieller Bedeutung zwischen dem Menschen und dem Objekt besteht. 

Bei der Analyse der Situation gilt es zwischen Ställen in den Landwirtschaftszonen und solchen in den Bauzonen zu unterscheiden. Während die Bauten in der Landwirtschaftszone der Bundesverordnung unterliegen und eine Fremdnutzung nicht gestattet ist, können die Ställe in den Bauzonen umgenutzt werden. Voraussetzung ist jedoch, dass die entsprechenden Reglemente der Gemeinden berücksichtigt werden. Für die Ställe im Dorf herrscht neuerdings ein grosses Interesse. Ihre archaische Kraft fasziniert; sie entsprechen einem Sehnsuchtsraum für ausserordentliche Lebensstile. Aussen soll sich wenig verändern, im Innern findet sich zumeist eine mondäne Welt. Die Kultur, die diese Bauformen hervorgebracht hat, wird höchstens in Bildern oder narrativ gelebt — ausserhalb konkreter Erfahrungen. Die vermeintliche Integration in das Ortsbild erscheint vielen Gemeindebehörden und Kulturkonservativen nicht als abwegig. Unlängst erachtete auch die Bundespolitik die Ställe als brachliegendes Kapital, das es zu nutzen gilt. Nach Inkraftsetzung der Zweitwohnungsinitiative sollen ortsbildprägende Ställe in Zweitwohnungen transformiert werden. Argumentiert wird mit Kulturerhaltung. Was bleibt ist jedoch nur ein Bild. Der Umgang mit dem Ort degeneriert zu einem kulturellen Voyeurismus. Und das Paradoxe an dieser Haltung: langfristig gehen uns die Bilder aus, weil blosse Kulissen keine dauernde Kraft haben. 

Was machen wir mit Ställen, die in ihrer ursprünglichen Art nicht mehr gebraucht werden? Die Frage ist in landwirtschaftlich geprägten Gegenden aktuell. Niemand wird sie abschliessend beantworten können. Etwas unbestrittener ist die Meinung, dass die Verhaltensweise im Dorf von derjenigen in der freien Landschaft abweichen muss.

Im Dorf scheinen drei unterschiedliche Arten des Bauens bei der Transformation von Ställen möglich. Die erste könnte man als eine mechanistische oder marktorientierte Verhaltensweise bezeichnen. Innerhalb eines solchen Handelns wird die materielle und konstruktive Substanz als reine Materie betrachtet und für das Neue nur in einem funktionalen oder ökonomischen Sinn verwendet. Die zweite ist eine idyllische oder bewahrende Haltung, die das Atmosphärische einer verlorenen Zeit verherrlicht und mit den scheinbaren Sachzwängen der Gegenwart irgendwie abstimmt. Und eine dritte versucht die bauliche Substanz und das Atmosphärische mit der Zuversicht für das Neue zu einem höheren Grad von Synthese zu führen und so wieder eins werden zu lassen. Der erste Ansatz scheint geistlos, der zweite ohne Hoffnung, der dritte eröffnet innerhalb der Geschichte und der Erinnerungen des Kontextes ein weiteres, im Jetzt verankertes Kapitel.

Der versprechende Ansatz scheint somit nicht in der Bilderhaltung zu liegen, sondern in der Entwicklung des Ortes, das heisst in der Raumbildung. Aber in einem den Menschen unterstützenden Ort lassen sich Räume und Plätze nicht herstellen wie Dinge. Gefordert ist die Zuversicht und der Glaube, prägende Orte für die Gegenwart entwickeln zu können. Das kulturelle Erbe wird darin nicht verdrängt; es ist unverzichtbar für das Weitertragen eines identitätsstiftenden Lebensgefühls. 

Der Stall hat seine Funktion verloren und verschiebt sich dadurch zum heterotopen Typus, zur Kehrseite des Brauchbaren. Dieses Zweckfreie macht uns bis zu einem gewissen Grade frei.

Zugleich merken wir: der Umgang mit Ställen ist weit mehr als nur eine Frage der Gestaltung — er ist eine Herausforderung der Kultur. Und die Hauptfrage darf nicht sein, was ist möglich, sondern, was wollen wir? Nur dann schaffen wir die Bedingungen für ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Dorfes. 

Im kommenden Semester wollen wir an verschiedenen Orten im Alpenraum diesen Fragen nachgehen und Ideen entwickeln. Die Kulturfrage kommt an den Fragen des Gemeinsamen nicht vorbei. Das Gemeinsame vermag die Formen zueinander auszurichten und tritt damit an die Stelle jener Bedingungen, die ehemals gegeben waren und zu diesen faszinierenden Bildern geführt haben. Das Gemeinsame gibt es nicht — aber es ist im gesellschaftlichen Dialog immer wieder findbar. Es zu finden bedeutet, im gemeinsamen Gespräch zu Erkenntnis und zu möglichen Zielen zu gelangen. Bei diesen Recherchen wenden wir uns verschiedenen Dörfern zu und entwerfen Bauten und Räume unterschiedlicher Nutzung. Gleichzeitig wenden wir uns der offenen Kulturlandschaft zu. Dorf und Landschaft sind als Einheit zu verstehen. Erst das Zusammenwirken verschiedener Elemente hat zu dieser Kultureinheit geführt. Die Kulturlandschaft ist ein grosser Speicher wichtiger Erkenntnisse.

Wir sind uns im Klaren, dass der Berg kein Bauernland mehr ist. Das zwingt uns, die Rolle des Berggebietes — auch innerhalb der Schweiz — neu zu betrachten. Unter heutzutage herrschenden Bedingungen und stark lastenden ökonomischen Perspektiven hätte das Bergebiet kaum eine Existenzberechtigung. Gerade der Sehnsuchtsraum Stall lehrt uns, dass sich der Mensch letztlich nicht mit der Rationalität und dem nur berechnendem Denken begnügt. Wir wissen, dass diese begehrenswerte Gegenwelt nicht durch die Versöhnung mit modernen Lebens- und Wirtschaftsformen entsteht, sondern durch die Stärkung von Differenzen. Differenzbildung entsteht aber nicht durch subjektives Handeln, sondern durch die Nähe zu den Dingen und durch die Vermittlung von äusseren und inneren Realitäten. Nur dann entstehen Werte für alle. Darum hat die Zukunft der Bergebiete trotz seiner ökonomische Unbedeutendheit eine raumübergreifende Dimension; der Berg braucht die Stadt und die Stadt braucht den Berg.

Für den Umgang mit Ställen wagen wir eine Formulierung:

  • Die Spannung in der offenen Kulturlandschaft ist möglichst hoch zu halten. Diese Spannung, die eine Art von Freiheit vermittelt, verschwindet zunehmend durch die Transformation von Ställen zu anderen Zwecken, z. B. zu (touristischem) Wohnen.
  • Der Umgang mit den Ställen im Dorf folgt dem Ziel, die Kraft des Ortes zu erhalten und zu stärken. Das führt zu Differenzen zu anderen Orten und letztendlich zu Identität.

Die Beschäftigung mit der Stallkultur nutzen wir für ein grundsätzliches Nachdenken über wichtige Themen der Architektur:

  • Wann ist Architektur Kultur und was können wir mit Architektur bewirken?
  • Finden wir — nach der Spaltung von Kunstbau und Zweckbau — über eine Beziehung von Form und Funktion zurück zu einer autonomen Architektur?
  • Was unterscheidet ein Bauen am Ort von einem Bauen für den Ort?

Lassen wir uns von Charles Ferdinand Ramuz herausfordern: «Und niemals mehr, seit jener Zeit, hat man dort oben den Klang der Herdenglocken vernommen; denn das Gebirg hat seinen eigenen Willen, denn das Gebirg hat seinen eigenen Plan.» 
(aus dem Roman Die grosse Angst in den Bergen)

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich 
Assistenten: Lorenz Jaisli, Timon Reichle, Franziska Wittmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Josef Perger 
Anzahl Studierende: 16 
Unterrichtssprache: Deutsch 
Arbeitsweise: Einzelarbeit 
Aufgabentyp: Entwurf (LV 052-1101-17, 13KP) 
Einführung: Dienstag, 19. September 2017, 10.00 Uhr
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