2015 Frühjahrssemester

ORTE SCHAFFEN
ist ein Projekt für den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk, Architektur und anderen Disziplinen. Die Kernidee besteht darin, Räume zu schaffen, die einen unmittelbaren Bezug zu ihren Bewohnern haben. Wir vertreten die Überzeugung, dass der Mensch erst aus dem Überschaubaren heraus fähig und bereit ist, wirksame Motivationen zu entwickeln und schlussendlich Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen. Dabei sind wir uns bewusst, dass dieses Überschaubare nicht für alle Aspekte der menschlichen Existenz in dieser Welt steht. Das Projekt Orte schaffen will an spezifischen Themen forschen, die uns bewegen und die als verantwortlich für die Vernichtung von Differenzen und kultureller Vielfalt betrachtet werden. Die Kooperation zwischen Forschern, Spezialisten aus den verschiedensten Fachgebieten, Lehrern und Studierenden, Planern und Entscheidungsträgern wird gesucht und soll möglichst konkret und praxisorientiert sein.

Joseph Mallord William Turner, The Fall of an Avalanche in the Grisons

ORTE SCHAFFEN XII | FS 15

Ein Haus für St. Antönien
Informationszentrum am Lawinenhang

«Katastrophen kennt alleine der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine Katastrophen.» Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän

Die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen kann man in unserer Zeit zwar statistisch kalkulieren, ihr tatsächliches Eintreten und ihr Verlauf sind jedoch nicht vorhersehbar. Den Betroffenen bleibt ein Gefühl der Ohnmacht, weil dem Unheil im konkreten Fall keine menschliche Kraft gewachsen ist. In vergangener Zeit machte man die Götter verantwortlich für das ergangene Leid und deutete dieses als gerechte Strafe für menschliches Fehlverhalten. Solche Deutungen verloren durch Aufklärung und naturwissenschaftliche Erkenntnisse ihre Bedeutung. Den Schutz vor Lawinen kann sich der Mensch im Gegensatz zu vielen anderen Naturkatastrophen etwas besser einrichten. Die Lawinengefahr kommt in spezifisch lokalen Situationen vor. Gerade deswegen scheint sie überschaubar, ja gar steuerbar. Das wussten die Menschen bereits in früheren Zeiten. Aufgrund der knappen Lebensressourcen waren sie oft gezwungen, Häuser und Ställe in gefährdeten Lagen zu bauen. Durch das Wissen des Zusammenhanges zwischen topographischer Beschaffenheit und Lawinenniedergängen konnte das Risiko dennoch möglichst klein gehalten werden. Gerade in touristisch florierenden Orten wurde in den letzten Jahrzehnten jedoch an Lagen gebaut, die der frühere Bewohner gemieden hätte. Diese Willkürlichkeit hat zu mehreren Katastrophen geführt. Aber unabhängig davon wissen wir aus Erfahrung, dass die Lawinengefahr nur bedingt kontrollierbar ist. Sie schlägt oft überraschend zu, ungewöhnlich leise. Sie bleibt unberechenbar. So auch im Jahre 1999 als in Galtür (Tirol) 39 Menschen ums Leben kamen. Das Unglück wurde als «nicht-voraussehbar» erachtet. 

St. Antönien, die kleine Gemeinde im Prättigau, wurde immer wieder von schweren Lawinen heimgesucht. So geschehen am 4. Februar 1935. Der Landammann Peter Flütsch erinnert: «Noch ist den Beteiligten in allzu guter Erinnerung, wie wir bei starkem Schneefall und Schneetreiben in finsterer Nacht beim Schein der Sturmlaternen in den Trümmern des Hauses Enzian und des Heimwesens Matta in festgepresstem Lawinenschnee ohne Erfolg nach sieben verschütteten Menschen gruben. Wir hörten nur das Brüllen verendender Kühe, und, wie wir glaubten, das Meckern einer Ziege und mussten die Arbeit gegen Mitternacht unverrichteter Sache aufgeben. Und der schwerste Tag sollte noch kommen. Es war die Beerdigung der sieben Opfer am 9. Februar 1935. Damals sagten wir uns, dass das nicht so weiter gehen könne.» 

Als die Walser um 1300 ins Tal zogen, war das Gebiet bewaldet. Je stärker die Bevölkerung wuchs, desto mehr Wald wurde gerodet. Man brauchte das Holz für den Bau von Häusern, Ställen und im Winter zum Heizen. So kam es, dass im Tal immer mehr Bäume verschwanden und die Gefahr durch Lawinen stieg. Heute ist die Lawinengefahr in St. Antönien deutlich kleiner. Zu ihrer Eindämmung wurden drei Schutzmassnahmen getroffen; in der obersten Zone über dem Wald verhindern Verbauungen das Anreissen von Lawinen. In der mittleren Zone steht der Schutzwald und in der untersten liegen hinter den Häusern die Ebenhöch, jene keilspitzige Schwergewichtskörper aus Mauerwerk, die die Schneemassen beidseitig des Gebäudes ablenken. Die Menschen in St. Antönien liessen sich von den Lawinenkatastrophen nicht einschüchtern. Sie blieben im Tal. Heute scheint die Existenz weniger durch die natürlichen Gefahren bedroht als vielmehr durch fehlende ökonomische Grundlagen und Perspektiven. Stimmen, die solche Lebensräume als potenzialarm einstufen und ihre Aufrechterhaltung in Frage stellen, werden immer lauter. Warum nicht einfach die Subventionen zurückfahren, Infrastrukturen und Siedlungen aufgeben und die Region der «Wildnis» überlassen?

An den Fragen der Potenziale kommt der Mensch, der sich in einer verantwortungsvollen Weise mit dem Bergebiet und mit solch besonderen Orten wie St. Antönien beschäftigt, nicht vorbei. Eine Aktualisierung des Bündnisses zwischen den Fürsprechern der Bergebiete und denen der anderen Regionen ist stets gefordert. Die Suche nach einer dritten Option – jenseits einer hochsubventionierten Aufrechterhaltung existenzieller Grundlagen im Berggebiet und eines gegenteiligen radikalen Abbaus dieser Bestrebungen – bleibt die grosse Herausforderung unserer Zeit. Eine Beurteilung nach ausschliesslich ökonomischen Kriterien liesse Gebiete wie St. Antönien kaum eine Existenzberechtigung. Eine andere Leistung wird ersichtlich, wenn Peter von Matt in Das Kalb vor der Gotthardpost schreibt: «Schon bei Haller stand die Ursprungsvision im pointierten Gegensatz zu den ‹grossen Städten›, und tatsächlich hat sich die Schweiz als Ganzes nie von ihren Städten, vom Kernphänomen Stadt her definiert – wie es etwa Frankreich mit Paris oder England mit London tun. Der symbolischen Gewalt der Berge waren die Städte nie gewachsen, obwohl in ihnen alle historischen Durchbrüche geschahen, von ihnen alle Energien der Veränderung, des Fortschritts also, und des Anschlusses an die ‹beschleunigten Processe› der Weltzivilisation ausgingen.» Auch wenn später und noch immer leidenschaftlich gegen die Übermacht des alpinen Symbolpotenzials geklagt und geschimpft wurde – die Berge stehen noch immer für die Identität der Schweiz. 

Dieser Tatsache und anderen Feststellungen wollen wir im Semester mit Vorsicht begegnen. Anders als zu Zeiten Albrecht von Hallers sind wir heute selbst zur Gefahr für die Natur – und damit auch für die Berge – geworden. Die Natur ist in unseren Händen zerbrechlich geworden. Zugleich ist uns klar, dass sie auch ein Teil unserer Identität ist. Von unserem Denken und Handeln scheint mehr und Elementareres abzuhängen als noch im 18. Jahrhundert.

Wir entwerfen an einem steilen Hang in der Nähe des Dorfes St. Antönien ein Haus. Das räumliche Zentrum des Hauses bildet eine Werkstatt. Als Metapher widerspiegelt die Werkstatt für uns einen Ort, der vielfältige Beziehungen nach aussen – wie auch nach innen – zu erzeugen vermag. Das Haus soll zudem eine Funktion als Lawineninformationszentrum übernehmen. Es trägt einerseits zu einer ortsspezifischen Erinnerungskultur bei (dabei stehen eine Bedrohungskommunikation und ein Bewältigungshandeln einander dialektisch gegenüber), anderseits steht das Haus für Beziehungsperspektiven zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen Kultur und Natur.

Wir werden weiterhin nach dem Bild als Äquivalent zur heutigen Ästhetik suchen. Nach wie vor vertreten wir die Überzeugung, dass in der Nähe zu den Dingen und damit in Verbindung zu anderen Werten eine spezifische Schönheit zu finden ist. Eine auf einer bestimmten Kultur basierende Schönheit, die eine Faszination auf Menschen aller Herkunft und Kulturen auszuüben vermag. Diese Suche nach einer Ausformung ausserhalb der ästhetischen Universalgrammatik ist zugleich ein Protest gegen die Vernichtung von Vielfalt wie auch gegen die Herstellung von identitätsloser Vielfalt. Gerade unter Berücksichtigung der drohenden Lawinengefahr und ihrer Ursachen sowie durch den unverzichtbaren Einbezug der lokalen Topographie, erhoffen wir uns Bilder von spezifischen Prägungen. Die Aufgabe zwingt uns auch dazu, von neuem über das Verhältnis zwischen Kultur und Natur nachzudenken. Gerade das Element der begrenzten Kontrollierbarkeit des Bauens und Lebens am Lawinenhang fordert eine Revision der Trennung dieses Paares. Sie muss zu einer Vorstellung führen, in der Achtsamkeit und Aneignung in einer Wechselbeziehung stehen. Aus einer solchen Deckungs-gleichheit (ein Jenseits) von Natur und Kultur sollen die Bilder entspringen. Innerhalb des Entwurfsprozesses wollen wir uns verstärkt dem Modellbau zuwenden. Das Modell betrachten wir als eines der wichtigsten Werkzeuge der Architektur. Es soll insbesondere im Hinblick auf eine intendierte Atmosphäre genutzt werden. 

Fachleute und Spezialisten werden uns bei dieser komplexen Aufgabe begleiten und uns die Nähe zu den Dingen vermitteln, aus denen diese Architektur entspringt. Als Einstieg in das Semester werden wir zwei Tage in St. Antönien verbringen. 

Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Josef Perger 
Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich 
Anzahl Studierende: 16 
Unterrichtssprache: Deutsch 
Arbeitsweise: Einzelarbeit 
Aufgabentyp: Entwurf (LV 051-1102-15, 13KP)
Einführung: Dienstag, 17. Februar 2015, 11.00 in St. Antönien, Übernachtung im Hotel Rhätia.
Diskussionsveranstaltung: 
Discuors II Atelier Gisel, Dienstag, 12. Mai 2015, 19.00 im Atelier Gisel, PDF

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