ORTE SCHAFFEN
Orte schaffen ist ein Projekt für den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk, Architektur und anderen Disziplinen. Die Kernidee besteht darin, Räume zu schaffen, die einen unmittelbaren Bezug zu ihren Bewohnern haben. Wir vertreten die Überzeugung, dass der Mensch erst aus dem Überschaubaren heraus fähig und bereit ist, wirksame Motivationen zu entwickeln und schlussendlich Verantwortung für den eigenen Ort und für die Umwelt zu übernehmen. Dabei sind wir uns bewusst, dass dieses Überschaubare nicht für alle Aspekte der menschlichen Existenz in dieser Welt steht. Das Projekt Orte schaffen will an spezifischen Themen forschen, die uns bewegen und die wir als verantwortlich für die Vernichtung von Differenzen und kultureller Vielfalt betrachten. Die Kooperation zwischen Forschern, Spezialisten aus den verschiedensten Fachgebieten, Lehrern und Studierenden, Planern und Entscheidungsträgern wird gesucht und soll möglichst konkret und praxisorientiert sein.
ORTE SCHAFFEN IV
FS 2011
TOURISMUS TROTZ ALLEM: TEIL DER KULTUR
Der Tourismus hat sich im Alpenraum, welcher ausserhalb von Europa häufig mit der Schweiz identifiziert wird, seit dem 18. Jhdt. immer stärker etabliert. In dieser Zeit sind vor allem in den grösseren Tourismusregionen zwei unterschiedliche Strukturen entstanden; einmal die bekannten Belle-Epoque-Orte, wie Davos, St.Moritz und Zermatt, zum anderen unbekanntere, junge Tourismusorte, die fast nur aus Zweitwohnungskomplexen bestehen und meist im Wallis und in Graubünden liegen. Daneben gibt es noch kleinere Formen mit je eigener Gestaltung und Entwicklung, dazu gehört der sogenannte «sanfte Tourismus».
Der Tourismus ist heute im Alpenraum ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und wird von vielen als das ausschliessliche Kapital der nahen Zukunft im Berggebiet erklärt. Aufgrund dieser Überzeugung werden trotz der eher sinkenden Nachfrage, Infrastrukturen von gewaltigen Dimensionen geplant und teilweise auch realisiert. Darunter sind einige Neuerschliessungen von touristisch bisher unberührten Landschaften. Diese Anlagen sind spektakulär und zielen auf Attraktivitätssteigerung des touristischen Angebotes.
Die Ökonomen teilen die Schweiz in Cluster auf. Als die erfolgreichsten werden diejenigen angesehen, die im internationalen Standortwettbewerb erfolgreich mithalten können (Zürich/Finanzen, Basel/Pharmaindustrie, Genf/Dienstleistungen). Ausserhalb dieser Metropolitanregionen spielen auch einige wenige Gebiete im Alpenraum mit Resortcharakter eine vergleichbare Rolle (St. Moritz, Davos, Zermatt, Berner Oberland). Den abgelegenen Gebieten, die auch heute noch bewohnt sind, werden aus wirtschaftlicher Sicht kaum Chancen gegeben. Ihr wirtschaftliches Überleben hänge vor allem von Ausgleichs- und Unterstützungszahlungen ab, bei denen es fragwürdig sei, ob der Staat sich solch langfristige Hilfen leisten solle. Die naheliegende Lösung – aus ökonomischer Sicht – ist der Wegzug ihrer Bewohner in die Metropolitanregionen.
Da die Menschen aus diesen Gebieten, den «alpinen Brachen», nicht wegziehen wollen, halten sie an Lösungsmodellen fest, die bisher als erfolgsversprechend proklamiert wurden und von denen man angesichts ihrer Probleme meint, sie müssten nur durch zusätzliche Investitionen gestärkt werden. Neuerdings wird die Ansiedlung von Feriendörfern und Resorts auch öffentlich gefördert. Dies geschieht nun zusätzlich zum weiterhin anhaltenden Ressourcenverschleiss des Zweitwohnungsbau und trotz des Wissens um die Vernichtung der eigentlichen Substanz, von welcher der Tourismus im Alpenraum lebt. Der Trend, weg von klassischen Hotels zu Feriendörfern, hat auch damit zu tun, dass im Vergleich zu Hotelbetrieben die hohen Lohn- und Warenkosten in der Schweiz bei den Ferienhäusern weniger ins Gewicht fallen. Der Vergleich mit ähnlichen Betrieben in den Nachbarstaaten zeigt, dass die Löhne und die Lebensmittelpreise in der Schweiz fast doppelt so hoch sind, während das Bauen nur etwa 17% teurer ist. Somit ist mit dem Immobiliengeschäft kurzfristig mehr Rendite zu erwirtschaften als im Tourismusgeschäft. Solche Anreize führen mehrheitlich zu Missbrauch. Eine auf langfristig sinnvolle Strukturen und insgesamt auf Nachhaltigkeit zielende Form des Tourismus bleibt die Rarität. Tatsache ist, dass die Verstädterung der Lebens- und Siedlungsformen im Alpenraum unaufhaltsam und mit hohem Tempo zunimmt.
Kann Tourismus überhaupt nachhaltig sein? Kaum! Auf jeden Fall ist man weit davon entfernt. Aus der Leitidee «Orte schaffen» heraus fordern wir deshalb zu allererst eine ganzheitliche Betrachtung des Geschehens. Es ist zwar gegenwärtig nicht leicht, eine solche Position entschieden zu vertreten, da die Ökonomie und verwandte Disziplinen sich immer noch häufig als autonome Extrempositionen profilieren. Aber ohne die Bereitschaft, unsere Verhaltensweisen zu überprüfen und durch geänderte Lebensformen auch einen Wertewandel zu erreichen, werden sich die Probleme nochmals deutlich verschärfen. Wir sind in diesem Zusammenhang überzeugt, dass erst eine Erneuerung unserer Wahrnehmung und insbesondere unserer sinnlichen Wahrnehmung, bereichert durch ein hohes Mass an Bildung, andere Verfahren in Gang setzt, die langfristig eine Trendwende bringen. Deren Kraft kann am einzelnen Fallbeispiel am deutlichsten zum Ausdruck gebracht werden. Die Architektur kann und muss an dieser Stelle ansetzen.
Zu einem solchen Fallbeispiel könnte das Lötschental werden. Dort hat sich die Initiative «Wider den Zerfall» gebildet. Ziel ist es, einen ganzheitlichen Lebensraum zu schaffen. Das Lötschental ist ein abgelegenes Berggebiet im Kanton Wallis. Im Semester befassen wir uns mit dem Dorfteil Bodmen in der Gemeinde Blatten. Bodmen befindet im nördlichen Teil von Blatten in einer Mulde zwischen zwei für das Dorf charakteristischen Felsrücken. Die bauliche Substanz besteht aus 25 Gebäuden –mehrheitlich Stallscheunen. Die Ökonomiegebäude können zu einem grossen Teil infolge der Veränderungen der Landwirtschaftsstrukturen nicht mehr verwendet werden. Wir werden aus verschiedenen Hinsichten die Frage nach möglichen Transformationen dieser Bauten stellen. Neue Nutzungen im Rahmen des dörflichen Lebens und solche für Gäste kommen gleichermassen in Betracht.
Die grosse Herausforderung für diesen Ort besteht unter anderem darin, ein Umfeld zu entwerfen, in dem die Touristen und die Gastgeber in einem dialektischen Sinne in Beziehung treten. In einer solchen Kultur sollte der Tourist nicht mehr ein Flüchtiger (im Sinne von Hans M. Enzensbergers gesellschaftskritischer Tourismustheorie) sein, dessen Fluchtversuche von der eigenen in eine fremde Welt zum Scheitern verurteilt sind. Und der Gastgeber sollte nicht in eine Art der Prostitution verfallen, nach dem Motto von «Alles, was der zahlende Gast will, mach’ ich». Dies verlangt eine Stärkung der Autonomie sowohl des Gastes wie des Gastgebers.
Langfristig muss es jedenfalls gelingen, den Extrembegriff «Tourismus» so zu entlasten, dass dieser nicht zum Schlüsselbegriff für den Alpenraum wird und nicht im bisherigen Sinn vorherrschend bleibt. Tourismus ist eine Möglichkeit der Existenz unter mehreren. Er ist als Arbeitgeber im Alpenraum unverzichtbar, jedoch weniger wichtig als wir oft meinen. Nur in Verbindung mit einer solchen Perspektive steht uns eine hoffnungsvolle Tourismuskultur im Alpenraum bevor.
Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich
Assistenten: Thomas Stettler, Silvan Blumenthal
Anzahl Studierende: 12
Aufgabentyp: Entwurf mit integrierter Disziplin
Einführung: Dienstag, 22. Februart 2011, 10:00 im Atelier Gisel
Der Entwurf wird von Gesprächen mit Spezialisten aus Raumplanung, Tourismus und Soziologie begleitet.
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