2010 Frühjahrssemester

ORTE SCHAFFEN II
Die Komplexität des nachhaltigen Bauens

Wenn wir auf die abendländische Kulturgeschichte zurückblicken, so stellen wir fest, dass sie von Denkentwürfen geprägt wurde, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Einmal baut man auf die Sinne und bindet sich mit ihnen an die Erde. In anderen Zeiten geniesst der Verstand mit seinen Höhenflügen grösste Aufmerksamkeit. Der Mensch hat ständig versucht, sich in dem ihm zur Verfügung stehendem Raum zu verorten: zwischen Himmel und Erde, Geburt und Tod. Frühere Kulturen haben sich gewöhnlich in grösseren Zeiträumen verortet als wir es tun. Für uns bilden Geburt und Tod die kaum überschreitbaren Grenzen des Handelns und Denkens. Trotzdem lassen sich einzelne Konstanten ausmachen, die über alle Denkmodelle hinweg Bestand haben: Das Streben nach Glück und Sicherheit, oftmals verbunden mit der Hoffnung, an den besten aller Orte zu gelangen.

Der Ort ist im Gegensatz zum Raum, der eine unendliche Grösse hat und den man nach wie vor als reine Anschauung bezeichnen kann, eine wahrgenommene Einheit. Beziehungen, Ereignisse, Erinnerungen, dauerhafte Präsenz von etwas, Sinn, Material, aber auch die ihn umgebende Landschaft und Region sind bestimmende Merkmale des Ortes.

Die Frage nach dem Ort stellt sich immer wieder neu. Angesichts unserer ortsunabhängig gewordenen Kommunikation kann diese Frage als antiquiert erscheinen, als Beharren auf dem statischen Gegenteil der beschleunigten Lebensformen. Die gegenwärtige Krise und die allgemeine Verunsicherung weisen jedoch unmissverständlich auf die Notwendigkeit der Verortung von Lebensformen hin. Durch das Setzen von Orten wird der Raum überschaubar. Durch das Sorgetragen für Orte entsteht ein Wille, der auf Verantwortung und Identität basiert. Mit ihm wachsen Individuen, die zum Gestalten und, in dessen Vollzug, zum Dialog fähig sind. Diesen Dialog brauchen wir zwischen Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Handwerk und Architektur, wenn es um die Frage der Herausbildung von Orten geht.

Orte schaffen meint nicht das Streben nach einem Lokalismus oder nach einem sich selbst genügendem Denkmuster, das nur auf das Hier fixiert ist und sich an das Eigene klammert; es braucht auch kein ideologisch aufgeladenes Blut- und Bodendenken. Orte schaffen bedarf zuerst einmal der Sensibilisierung für das, was da ist, und dann der Kraft, dieses zu ordnen und in Beziehung zu setzen zu dem, was ausserhalb liegt oder fehlt.

Orte entstehen durch fruchtbare Differenzen zu anderen Orten. Diese Art von Differenz ist nicht eine Folge der willkürlichen Produktion von etwas, sondern eine Folge von gestalteten Beziehungen. Die unmittelbaren Gegebenheiten sind die Mittel, mit denen sie gebildet werden kann. Die Differenz wird vermehrt durch die Stärkung des Eigenen und ist nicht einfach aus dem Wettbewerb zu gewinnen. Für die Erzeugung dieser kraftvollen Differenz ist das Paar gegenüber dem Individuum die geforderte Grösse. Dennoch ist gerade in der Architektur das «Ich-Bezogene» so stark wie selten zuvor.

Unsere Vision einer Architektur der Zukunft liegt in der Schaffung von Differenzen: die Schweiz ist inmitten von Europa ein Land der besonderen kulturellen Vielfalt. Jedoch hat sich auch hier jene Gleichmacherei verbreitet, bei der die Material- und Formwahl unabhängig von den örtlichen Ressourcen erfolgt, wo Gestaltungen sich nicht auf gesellschaftsbildende Formen stützen und wo Energiefragen beim Hausbau einzig auf Hülle und Technik reduziert werden, um nur einige Beispiele zu nennen. All dies führt nicht zu einer Architektur, die sich ein gesellschaftliches und kulturelles Ziel setzt. Eine solche streben wir an.

Wir beschäftigen uns über mehrere Semester mit dem Thema «Orte schaffen». Im Herbstsemester 2009 standen Energiefragen im Zusammenhang mit dem Wohnungsbau im Zentrum unseres Interesses. Eine Vermutung wurde im Prozess unserer Untersuchungen bestätigt: die Konzentration auf Labels und Zertifikate, besonders als Ausgangspunkt für den Entwurf, führt zu einer Verarmung der Kultur und zu einer Vernichtung von Differenzen. Eine solche Strategie ist kein Beitrag zu unserer Vorstellung von «Orte schaffen». Ferner ist festzuhalten, dass der Energiekonsum verschleiert wird. Wir möchten beim Einstieg ins Semester Umfassenderes über den Umgang mit Energiefragen erfahren und verfolgen anschliessend einen etwas radikalen Ausgangspunkt für die Entwurfsaufgabe.

Im Bericht «Die Grenzen des Wachstums» des Club of Rome wird folgendes festgehalten: «Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern ein aussergewöhnliches Mass von Verständnis, Vorstellungskraft und politischem und moralischem Mut». Sich zu verstecken hinter Produktinnovationen und technischen Errungenschaften und diese anschliessend mit dem Deckmantel «Nachhaltigkeit» zu verkleiden, genügt nicht. Gefordert ist eine gut fundierte Denkweise, die unsere Bewusstseinsebene verpflichtet. Und selbst wenn die Situation auf der Erde doch nicht so ernst sein sollte, wie viele Wissenschaftler es meinen, so wird man durch einige Grundsatzfragen, die auch in der Architektur gestellt werden müssen, unsere Kultur auf einem Prüfstand gesehen haben, wo sich das Neue jenseits vom schnell erzielbaren Anschein als tragfähig bewährt. Dieser Prüfstand braucht einen Rahmen, innerhalb von dem er steht. Wir empfehlen die Leitidee der Gleichzeitigkeit von Leben und Kunstform.

Zur Aufgabe: Wir entwerfen das Wohnen in drei unterschiedlichen Situationen, in denen unterschiedliche Materialien vorkommen. Der zu verwendende Baustoff kommt ausschliesslich aus der näheren Umgebung. Die grosse Herausforderung in dieser künstlich erzeugten Not, die wir kulturell als sinnvoll und legitim betrachten, liegt für uns darin, mit den Eigenschaften und mit den Möglichkeiten des einfachen Materials und dessen Verwendung eine hohe Wohnqualität zu erreichen.

Durch die eingeschränkte Materialwahl wird sich vorerst eine etwas einförmig scheinende Perspektive einstellen. Mit der Forschung am Material und den daraus zu gewinnenden Konstruktionen, aber auch durch das Erkennen von Grenzen, wird sich bald eine breite Vielfalt an Möglichkeiten zeigen. Hier ist der Alchimist gefragt.

Die installierte Gebäudetechnik ist neuester Stand der Forschung. Diese werden wir minuziös auswählen, sie auf das Notwendigste beschränken und in das archaische anmutende Baukonstrukt sorgfältig integrieren. Somit wird die Technik zum Luxus und zu einer Angelegenheit aus der Kategorie der Klugheit. Die zerstörerische Potenz eines nur technischen Reichtums wollen wir ausschliessen.

Das oberste Ziel der Semesterarbeit besteht darin, Erfahrungsräume im Umgang mit Material und Konstruktion zu identifizieren. Erst die Beschäftigung mit den sich bietenden Möglichkeiten führt zu Bildung und langfristig zu Wissen. «Wissen ist das Gegenteil von Informationen», sagt H. G. Gadamer. Die für uns entscheidende Frage ist, ob es gelingt, nebst der technischen Machbarkeit und vor allem nebst der Wirtschaftlichkeit, die ein wichtiges Kriterium der Nachhaltigkeit ist, andere Verhaltensformen zu entwickeln, die nicht als Verlust von Lebens- und Wohnqualität, sondern langfristig als Mehrwert empfunden werden.

Die absolute Maxime der Architektur war und ist noch immer grossartige Räume für die Zeit und über diese hinaus zu entwerfen. Erst durch dauerhafte Wertschätzung wird die Nachhaltigkeit gefördert.

Das Semester wird von verschiedenen Spezialisten aus der Energie-, der Materialwissenschaft, sowie der Wirtschaft und Umwelt begleitet.

Alles ist und bleibt Vorstellung und Idee. In und an unseren Intentionen ist dann aber so etwas wie Qualität zu erkennen, sobald sie reale Gestalt annehmen. Das Prädikat der Qualität bezieht sich auf den Umgang mit Material und den Umgang mit Sinn. Qualität muss jedoch innerhalb einer Gemeinschaft als Richtschnur anerkannt werden. Deshalb sind alle Ideen so zu entwickeln, dass in ihnen die Möglichkeit der Annahme durch die Gemeinschaft mitgedacht ist.

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich
Assistenten: Thomas Stettler, Silvan Blumenthal
Anzahl Studierende: 10
Aufgabentyp: O/I
Einführung: Dienstag, 23. Februar 2010, 10:00 im Atelier Gisel

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