2007 Sommersemester

Ruraler Kontext II – Autarkie in einem offenen Netz 

„Wirklichkeit nach der neuen Auffassung ist nicht ‚Realität› – Realität als das, was sich aus Dingen zusammensetzt -, Wirklichkeit ist Potenzialität“, sagt Hans-Peter Duerr als Physiker. Man kann dies ausdehnen: auch kulturelle, wirtschaftliche und soziale Wirklichkeiten werden wesentlich bestimmt von dem, was in ihnen an Möglichkeiten gesehen wird. 

Manche sehen für die ländliche Peripherie wenig Möglichkeiten. Also auch keine Wirklichkeit? 

Wir behaupten, dass dies vor allem an der Wahrnehmung liegt. Unsere Bildung schult eine Wahrnehmung, die unempfindlich ist für das, was Orte, Umgebungen, Interaktionen mit der Natur und existentiell vernetzte Gemeinschaften bieten können. 

Wir müssen deshalb unsere Sinne neu schärfen. Das könnte Ideen bringen zu dem, was in der Vielfalt der Regionen möglich ist. Und was zurückwirken könnte auf das Leben in den Zentren.* 

Die Sinne zu schärfen, ist keine leichte Aufgabe. Es geht nicht um ein Mehr an Leistung, sondern um den breiteren Blick. Zuerst muss man wohl schauen, wo die eigene Wahrnehmung unnötig festgelegt ist. Zugleich aber ist die Einsicht wichtig, dass die Kontexte von Orten und Ereignissen immer sehr komplexe Phänomene sind. Denen gilt es nachzuspüren mit allen Mitteln, die der menschlichen Wahrnehmung zur Verfügung stehen: sehen, empfinden, logisch analysieren. Dies alles vor Ort. Dann wird sich der Blick öffnen für das Tragende wie für das Instabile der angetroffenen Lebensform und vielleicht auch für Ideen einer Zukunft im ruralen Kontext. Wir fragen uns, ob eine dieser Ideen lauten könnte: wieder zu gewinnende Autarkie – Autarkie mit bewusst gepflegten Verbindungen nach außen? 

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Das Val Lumnezia ist ein Seitental in der Bündnerischen Surselva. Die ökonomische Grundlage ist die Landwirtschaft, der Tourismus und das lokale Gewebe. Vor allem die Randdörfer sind von der Abwanderung betroffen. Die einzelnen Gemeinden sind zu klein, um langfristig die Infrastrukturen für eine funktionierende Dorfgemeinschaft sicherzustellen. An diesem Punkt haben wir angesetzt. Wir haben den Einheimischen die Frage nach der Lebensqualität des Val Lumnezia gestellt und ob neue bauliche Infrastrukturen diese weiter entfalten könnten. Wenn ja: Was für Einrichtungen und Anlagen sind notwendig und wo sollen diese zustande kommen? 

Dieser Frage ist eine präzise Analyse der Eigenarten, der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zwischen den einzelnen Dörfern vorausgegangen. Bei der Standortwahl für die Anlagen waren Nähe und Distanz, Zentrumsfunktion, Bedeutung im Tal und Funktionen für eine Vernetzung nach außen entscheidend. Man weiß, dass die Sicherstellung von Infrastrukturen nur über Kooperationen erfolgen kann. Bisher wurden solche Fusionsfragen lediglich aufgrund von ökonomischen Kriterien geführt. Fragen der inneren Identitäten standen nicht zur Diskussion. In dem hier angepeilten Findungsprozess muss es gelingen, Grenzen abzubauen ohne Differenzen zu vernichten. 

10 Studierende haben während des Wintersemesters für 10 verschiedene Dörfer, aufgrund der Analyse und des Diskurses mit der einheimischen Bevölkerung, eine Idee entwickelt und den Standort für die Umsetzung dieser Idee bestimmt.

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Bis zum Beginn des Sommersemesters werden die Vorschläge im Gespräch mit den Leuten im Tal nochmals diskutiert und die Entwurfsaufgabe konkretisiert. 

Jedem Studierenden werden ein Dorf und eine spezifische Entwurfsaufgabe zugeteilt: 
luvratori/Werkstatt 
clinica per giuvenils/Jugendklinik 
canorta purila/Bauernmarkt 
sera dalla veta/Altersheim 
hotel/Hotel 
ustariva/Restaurant am See 
inscunter giuvenil/Jugendraum 
casa dalla musica/Haus der Musik 
claustra/Kloster. 

Während die 10 Studierenden sich ausschließlich auf die Entwurfsarbeit konzentrieren sollen, werden wir zwei bis drei Wahlfacharbeiten betreuen. In diesen Wahlfacharbeiten soll es um Entwicklungsstrategien für die Kulturlandschaft des Val Lumnezia gehen. (Prof. Girot) Im Visier stehen ideelle Perspektiven ebenso wie konkrete Fragen der Regionalpolitik, der Gemeindefusionen und des Zweitwohnungsbaus. Parallel dazu wird am Lehrstuhl ein Konzept für „die Tage der Utopie 07“ (St. Arbogast) erarbeitet, das sich mit zukünftigen Lebensformen in der Peripherie auseinandersetzt. 

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich 
Anzahl Studierende : 10 + Wahlfacharbeiten 
Aufgabentyp: O/I/P 
Einführung : 19. März 2007, 10 00 im Atelier Gisel 

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