ORTE SCHAFFEN XXVII | HS 22

Konkrete Orte

Bruno Latour sagt, dass es keine Trennung von Natur und Kultur gibt und fordert eine umfassendere Weltsicht – eine Kosmologie, in der der Mensch nicht ein getrennter Teil der Schöpfung, sondern ein Akteur eines Netzwerkes, eines grossen Ganzen ist. Eine solche Disposition würde andere menschliche Verhaltensformen nach sich ziehen. Was wären die Konsequenzen?

In der Architektur hat die Trennung des Menschen von der Natur dazu geführt, dass wir die Umwelt als eine unendlich verfügbare Ressource betrachten. Das von individuellen Interessen getragene Bauen verschlingt Unmengen von Ressourcen und erzeugt in der Folge nicht nur ökologische Probleme, ganze Lebensräume verschwinden, Gebiete werden von Un-Orten geprägt.

Das Ziel unserer Architektur ist es, Orte zu schaffen die dem Mensch Halt und Zuversicht geben. Ein solcher Ort ist mehr als die Ansammlung von guten Objekten. Es sind verschiedene Entitäten, die in Beziehungen zueinander stehen, es ist das Zusammenspiel von zahllosen Dingen und Lebewesen.
Dieses Miteinander-zu-tun-haben hat viele Facetten. Kultur ist in manchen Fällen eine Ergänzung oder Verlängerung der Natur, ein anderes Mal Entgegensetzung und Bewältigung. Ob der Wolf, der an einem entlegenen Ort dem Bauern die Schafe reisst oder ob der Bannwald am Lawinenhang, der den Menschen vor Lawinen schützt, der Natur oder der Kultur angehören, lässt sich kaum beantworten.

Diese Beispiele zeigen auch, dass eine grosse Versöhnung von Natur und Kultur, wie einige fordern, nicht selbstverständlich funktionieren kann. Auch der Begriff der Beziehung ist darin kritisch zu betrachten. Beziehung steht für eine Gegenseitigkeit. Etwas, das sich abwendet, geht aus der Beziehung heraus. Wir stehen eher in einem Verhältnis zu anderen am Lebensraum Teilnehmenden und müssen von Fall zu Fall über Nähe und Distanz entscheiden. Gerade der Wolf zeigt auch das einander Ausschliessende, er will nicht unser Kuscheltier sein. Bruno Latour sagt: der Mensch gehört beiden Welten an, der Natur und der Kultur.

Zu einer ähnlichen Konklusion kommt Michael Hampe, wenn er sagt: Wir leben nicht in der Natur und der Kultur, sondern in konkreten Situationen an bestimmten Orten, in und an denen wir jeweils Orientierung finden müssen. Die Begriffe Natur und Kultur sind zu allgemein, als das man mit ihnen eine normative Orientierung erreichen könnte.

Ich habe diese Verhältnisse in meiner Kindheit erlebt. Nicht Landschaften, sondern der Kartoffelacker, die Lawine etc. waren die Themen der Gespräche in Vrin. Die Menschen waren ständig auf der Suche nach direkten Verbesserungen der konkreten Situation. Die Umwelt war weder idyllisch noch böse, sie war das was sie war. Es war wenig berechenbar, vielmehr mussten wir lernen mit Unerwartetem umzugehen. Veränderung kam in dem Moment, als eine gewisse Innenperspektive des Nicht-Wissens durch Informationen abgelöst wurde.

Wir versuchen im Semester diesen Ideen und heutigen Wirklichkeiten, die auf besonderen Verhältnissen beruhen näher zu kommen und entwerfen in einer Talschaft verschiedene Projekte: ein Haus am Lawinenhang, eine Unterkunft für Mensch und Tier vor dem Wolf geschützt, ein Gebäude am Fluss, ein Haus im Wind, ein anderes im winterlichen Schatten der Berge.

Wir wollen nicht zurück in eine idealisierte Natur, die nie existiert hat, sondern suchen einen Weg aus der Unsicherheit, ein Vertrauen. Für ein trittfestes Handeln brauchen wir Zuversicht, auch im Umgang mit den ökologischen Problemen. Wir möchten Zusammenhänge verstehen, innere Verknüpfungen aufspüren, Abhängigkeiten aufdecken und kritisch betrachten, unsere Wahrnehmung teilen um eine Orientierung zu finden für einen Weg in der Architektur – eine Architektur der Differenzen.

In diesem Sinn ist Architektur eine Autonomie aus dem Kontext heraus. Sie kann von Selbstbewusstsein aber auch von Selbstkritik geprägt sein, sie verzichtet aber keinesfalls auf Solidarität. Autonomie braucht ein Gegenüber. Ohne Bezug ist die Autonomie als ordnendes Prinzip obsolet, ohne Relation zu den Dingen und abgeschnitten vom Streben nach einer Stärkung des gemeinsamen Lebensraumes. Die Autonomie der Architektur ist in diesem Sinne keineswegs gefährdet.

Wir sind der Meinung, dass Architektur mit ihren Mitteln den Problemen der Zeit entgegentreten muss. Gelingt das nicht, dann werden Probleme nur umgelagert. Gefordert ist ein Wirken und Handeln aus der konkreten Situation an einem bestimmten Ort. Dann wird es auch in Zukunft möglich sein gute Orte zu schaffen.

Arbeitsort: Atelier Gisel, Streulistrasse 74a, 8032 Zürich
Assistierende: Lorenz Jaisli, Timon Reichle, Franziska Wittmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Dr. Josef Perger
Unterrichtssprache: deutsch
Arbeitsweise: Einzelarbeit
Einführung: Dienstag, 20. September 2022, Atelier Gisel, 10 Uhr.
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